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Fachartikel zum Design von Business Software

  • heinzscheuring
  • 5. Jan. 2021
  • 7 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 1. Juli

Es braucht einen radikalen Paradigmenwechsel


Hersteller von Business Software orientieren sich zu stark an der Wirkung ihrer Produkte bei der Erstpräsentation, Fachjournalisten zu sehr an der Zahl der Features. Die Relevanz der Funktionen im praktischen Betrieb gerät dabei unter die Räder. Gefragt ist ein Paradigmenwechsel bei den Prioritäten: die kompromisslose Fokussierung auf jene Merkmale und Bedienkonzepte, die den maximalen Beitrag zum langfristigen Unternehmenserfolg versprechen. Das Gebot heisst radikale Nutzenorientierung. Ganz besonders gilt dies für die Evaluation und Einführung von Software.

 

Das Szenario: Mit viel Enthusiasmus und nach allen Regeln der Kunst wird die Evaluation und Einführung des neuen Managementsystems in Angriff genommen. Ziele werden gesetzt, der Anforderungskatalog mit Muss- und Sollkriterien entwickelt, motivierte Benutzer ins Projektteam geholt. Long- und Shortlists entstehen, Kataloge und Testberichte werden verarbeitet, und auch der externe Berater gibt sein Bestes. Auf die Herstellerpräsentationen und Besuche bei Referenzanwendern folgt die vergleichende Bewertung, die zum finalen Entscheid führt. Auch die Massnahmen zur Systemkonfiguration, Schulung und Einführungsbegleitung entsprechen dem Lehrbuch. Und doch bleibt der erhoffte Erfolg am Hersteller von Business Software orientieren sich zu stark an der Wirkung ihrer Produkte bei der Erstpräsentation, Fachjournalisten zu sehr an der Zahl der Features. Die Relevanz der Funktionen im praktischen Betrieb gerät dabei unter die Räder. Gefragt ist ein Paradigmenwechsel bei den Prioritäten: die kompromisslose Fokussierung auf jene Merkmale und Bedienkonzepte, die den maximalen Beitrag zum langfristigen Unternehmenserfolg versprechen. Das Gebot heisst radikale Nutzenorientierung. Ganz besonders gilt dies für die Evaluation und Einführung von Software. Ende aus. Der in Aussicht gestellte hohe Nutzen – schlagkräftige Planung, automatisiertes Controlling, hohe Transparenz, bessere Entscheide auf allen Stufen – lässt auch ein Jahr nach der Einführung auf sich warten. Das Vertrauen in die Daten fehlt und die Anwender beschweren sich über den hohen Bedienungsaufwand, den ihnen das System abverlangt. In der Folge blüht die Schattenwirtschaft in Form der früheren Excel-Insellösungen wieder auf. 

 

Business Software – IT-Anwendungen, die Aufgaben des Managements und der Geschäftsprozesse unterstützen – ist für den Erfolg jedes Unternehmens heute unverzichtbar. Entsprechend bedeutsam sind deren zielführende Evaluation und Implementierung im Unternehmen.

 

Doch was bedeutet dies konkret? Welches sind passende Massstäbe zur Beurteilung der Tauglichkeit von Software? Worauf ist bei der Einführung zu achten? Und was ist im einleitenden Szenario schiefgelaufen?

 

 

Die Software-Treppe der Wahrheit

 

Software ist daran zu messen, welchen Beitrag sie für den langfristigen Unternehmenserfolg leistet. In seinem Buch «Radikale Business Software» [1] wagt es der Autor, die Qualität von Software in eine Formel zu fassen. Die Kurzversion in Worten: Der Softwarenutzen entspricht der Summe des Nutzens und des potenziellen Schadens über alle Programmfunktionen abzüglich des Einführungs- und Nutzungsaufwandes. Im potenziellen Schaden kommt zum Ausdruck, dass Funktionen sich auch negativ auf den Gesamteffekt auswirken können.

 

Einen weiteren Ansatz, Softwareeinführungen kritisch zu beleuchten, bietet die «Software-Treppe der Wahrheit» in Abbildung 1. Sie zeigt die möglichen Hürden bis zum erfolgreichen, nutzbringenden Betrieb einer Anwendung. Zu fordern ist hier mindestens Stufe 9 – ein positiver Nettonutzen unter Berücksichtigung möglicher Nebenwirkungen. Einführungen, die bei Treppenstufe 2 bis 7 stehenbleiben, sind in der Praxis leider verbreitet zu beobachten. Um dies zu ändern, ist auf mehreren Ebenen anzusetzen.

 

Abbildung 1: Die «Software-Treppe der Wahrheit».
Abbildung 1: Die «Software-Treppe der Wahrheit».

Anforderungskatalog nach Lehrbuch

 

Im Informatikstudium werden angehenden IT-Managern die Regeln der professionellen Software-Evaluation vermittelt. Am Anfang des Prozesses steht die Entwicklung des Anforderungskataloges, geordnet nach Muss- und Wunschkriterien, letztere mit Prioritäten versehen. Der Katalog entsteht über die Befragung der künftigen Anwender, ergänzt durch das Studium von Vergleichskatalogen und Testberichten. Daraus resultieren meist sehr umfassende Anforderungslisten. Um auf der vermeintlich sicheren Seite zu sein, wird nicht nur das Sinnvolle, sondern auch das Vorstellbare nachgefragt. Damit läuft dieser Maximalkatalog Gefahr, am Ende die berüchtigte «eierlegende Wollmilchsau» zu fordern. Dazu trägt bei, dass sich erfahrungsgemäss die besonders aktiven und IT-affinen Anwender an der Erstellung der Wunschliste beteiligen, während der durchschnittliche User stumm bleibt.

Problematisch ist indes nicht nur das dem Absicherungsdenken geschuldete Übermass an Anforderungen. Genauso gefährlich kann die Forderung nach Funktionen oder Eigenschaften sein, die sich am Ende als kontraproduktiv herausstellen. So sind in Pflichtenheften nicht selten Musskriterien zu finden, die eigentlich «Möchten-wir-nicht»-Kriterien sein sollten. 

 

Dazu ein Beispiel: Wer seine Anforderungen an ein neues Projektmanagement-System definiert, wird durch Softwarekataloge und Vergleichstests dazu animiert, bei der Ressourcenplanung die Funktion des sogenannten automatischen Belastungsabgleichs zu fordern. Eine Überlastung von Mitarbeitern soll die Software verhindern, indem sie Aufgabenzuweisungen umdisponiert, Aufgaben splittet oder am Ende gar Projekttermine schiebt. Berücksichtigt werden dabei die Projektprioritäten. Um zahlreiche weitere zentrale Einflussfaktoren schert sich das Programm, da es von diesen nichts weiss, nicht. Diese sind denn auch viel zu komplex, als dass sie sich mathematisch fassen liessen. Da die künftigen Anwender keine Experten in diesem Spezialthema sind, können sie indessen nicht wissen, was sie sich mit der Funktion einhandeln. Es ist eine Fata Morgana, die im betrieblichen Alltag zu Frustration und Fehlentscheidungen führen wird. Und so steuern sie denn ungebremst ins planerische Verderben. Das Versprechen der Anbieter, die Kapazitätsplanung mit Künstlicher Intelligenz und passenden Algorithmen in den Griff zu bekommen, grenzt an Geschäftsbetrug. In der betrieblichen Praxis sind solche Entscheidungshilfen denn auch eher als Hilfe zur Fehlentscheidung zu werten.

 

Ein weiterer Bereich, in dem Spezifikationen häufig überspannt werden, sind die Work-flow-Fähigkeiten. Ein Zuviel an Prozessautomatisierung kann der heutigen Philosophie agilen Arbeitens zuwiderlaufen. Der ungehinderte Zugang zu den Daten auch ohne die Freigabe durch den Vorgesetzten ist meist zielführender als die Bevormundung.

 

«Es ist eine Fata Morgana, die zu Frustration und Fehlentscheidungen führen wird.»

 

Noch ein Beispiel: Der Trend hin zu vollumfänglicher Personalisierung der Programmoberfläche für jeden einzelnen Benutzer – auch unter dem Begriff der Portalfähigkeiten bekannt – ist problematisch, da er zur Isolation der User führen kann. Überzeugender als dieser gut gemeinte Individualismus am falschen Ort ist die Gleichschaltung der Navigation, das gemeinsam genutzte Haus. Dies fördert den Austausch zwischen den Anwendern und ermöglicht die kollektive Weiterentwicklung des Systems. Voraussetzung hierfür ist, dass die Anwendung umfassende Customizing- und Gestaltungsmöglichkeiten bietet.

 

 

Die Demofalle

 

Eine verbreitete Gefahr bei der Software-Evaluation ist die fehlende kritische Distanz bei Herstellerpräsentationen. Auch der Experte tappt bisweilen in die sogenannte «Demofalle». Gemeint ist jene Faszination, die sich einstellt, wenn per Drag & Drop Mitarbeiter flott von einem Task auf den anderen umdisponiert oder Arbeiten schnell per Maus um ein paar Monate in die Zukunft geschoben werden. Zumindest innerlich erntet dies spontanen Beifall. Was hier jedoch fehlt, ist der Härtetest in der betrieblichen Praxis. In der Demo passen die Tasks perfekt auf den Bildschirm. Die Ernüchterung folgt in der Praxis, wo es um die zehnfache Menge an Daten geht. Nun würde man sich die simple, unattraktive Tabelle zurückwünschen, die normales, zielführendes Arbeiten ermöglicht. Und jetzt erst begreift man, welches Planungschaos das lockere Schieben von Meilensteinen angerichtet hat, weil damit die mühevoll erstellte Ressourcenplanung zerstört wurde.

 

«Auch der Experte tappt bisweilen in die Demofalle.»

 

Effizienz und Transparenz entstehen nicht aus Schönheit und Eleganz, sondern durch Geradlinigkeit, Schnörkellosigkeit, Fokus und Zielorientierung. Was in der Demo unübersichtlich und hässlich wirken mag, entpuppt sich im Alltag häufig als die effizienteste Lösung. Beim Autokauf wissen wir es: Wir sollten uns beim Entscheid nicht von der Wagenfarbe leiten lassen.

 

 

Leitlinien für nutzenzentrierte Software

 

Die folgenden Empfehlungen richten sich an die Hersteller, die Business Software designen, an die Experten, an die Fachmedien und ganz besonders an die Entscheider, die Software evaluieren und einführen. Damit IT-Systeme im Alltag den grösstmöglichen Nutzen stiften, ist der Hebel hier anzusetzen:

 

  • Weniger ist mehr: Auf ausgeklügelte Funktionen für seltene Spezialfälle sowie auf reine Verkaufsfunktionen ist zu verzichten. Wo dies nicht vertretbar ist, gehört die Funktion aus dem Blickfeld des Durchschnittsanwenders verbannt.

  • Minimierung des Bedienungsaufwandes: Zur Vereinfachung des Handlings sind die Minimierung der notwendigen Klicks bis zum Ziel, tabellarische Dateneingaben statt Formulare sowie direkt editierbare Ansichten zu fordern.

  • Freier Datenzugang: Ein offener Datenzugang fördert unternehmerisches Denken. Starre Workflows behindern Selbstverantwortung, Effizienz und Kreativität.

  • Customizingfähigkeit: Die Möglichkeit, das System und ganz besonders die Navigation an die Bedürfnisse der Organisation anzupassen, ist von grösster Bedeutung. Das Customizing muss dabei durch die nutzende Organisation selbst ohne externe Unterstützung möglich sein.

 

 

Software-Evaluation mit Nutzenfokus

 

Was ist zu tun, um die Erfolgschancen bei der Evaluation und Einführung von Business Software zu maximieren? Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Erfolgsfaktoren in Abbildung 2.

 

Nicht selten wird Software für Aufgaben gesucht, die sich mit den vorhandenen Bordmitteln, etwa der Officepalette, mindestens ebenso gut unterstützen lassen. So dürfte eine Balanced Scorecard mit Excel effizienter und flexibler zu handhaben sein, als dies bei der Einführung eines komplexen Management-Systems zu erwarten ist.

 

Software richtig evaluieren und einführen

  • Sinnhaftigkeit einer Neueinführung oder eines Ersatzes prüfen

  • Nutzenzentrierter Anforderungskatalog und Mut zur Lücke

  • Einbindung der Durchschnittsanwender

  • Vorsicht vor der Demofalle

  • Gesunde Distanz zu Referenzanwendungen

  • Pilotbetrieb: ein Muss

  • Griffige Online-Benutzerdokumentation

  • Prozesse und Rollen zweckmässig gestalten

Abbildung 2: Erfolgsfaktoren von Business Software.


Ein guter Ratgeber bei der Erstellung des Anforderungskataloges ist der Mut zur Lücke und zum Ausschluss überzogener oder realitätsfremder Wünsche. Die zentrale Frage lautet: Welche Informationen und welche Funktionen tragen substanziell dazu bei, bessere Entscheidungen zu treffen, Arbeiten effizienter zu gestalten oder die Qualität der Resultate zu erhöhen? Einfachheit und Bedienungseffizienz müssen dabei höchste Priorität erhalten. Die Durchschnittsanwender sollten zum primären Massstab für den Evaluations- und Einführungsprozess gemacht werden. Diese sind aktiv zu suchen und zu gewinnen.

 

Kritische, gut vorbereitete Fragen an die präsentierenden Anbieter helfen, der Demofalle zu entgehen. Software muss nicht fliegen können, sie muss die Aufgaben im Geschäftsalltag maximal effizient und wirksam unterstützen. Die Hersteller verstehen sich gut darin, die «richtigen» Referenzkunden auszuwählen, wenn es darum geht, ihr System im besten Licht erscheinen zu lassen. Aufschlussreicher ist der Härtetest in der eigenen Umgebung.

 

Das erfolgreiche Erklimmen der Software-Treppe erfordert mehr als nur die Wahl der geeigneten Software. Neben dem nutzenorientierten Customizing sowie der zielgerichteten Einführungsplanung und unterstützung muss die zweckmässige Gestaltung der Prozesse und Rollen im Zentrum stehen. Diese Regelungen gehören ebenso in die Online-Dokumentation wie praktische Hinweise für die sinnvolle und effiziente Nutzung des Systems.

 

Und damit zum wichtigsten Instrument einer zielführenden Softwareeinführung – der Testinstallation mit Pilotbetrieb: Was die praxisnahe Beurteilung des künftigen Systems betrifft, kommt nichts an den Betrieb desselben unter realen Bedingungen heran. Der Bewertungsmassstab ist auch hier kompromisslose, radikale Nutzenorientierung.

 

Wer diese Regeln befolgt, wird die Wahrscheinlichkeit für eine nutzbringende Anwendung deutlich erhöhen. Die Chancen, auf der Treppe der Wahrheit die Stufen 9 oder 10 zu erklimmen, sind damit reell.

 

 

Kurz und bündig

 

Der Schaden, den fehlgeleitete Software-Evaluationen in Unternehmen, Organisationen und ganzen Volkswirtschaften anrichten, ist gross. Erheblichen Anteil daran haben Studien und Rankings, die an den Bedürfnissen der Anwender vorbeizielen und die Softwarehersteller dazu animieren, die Prioritäten falsch zu setzen. Die Softwareindustrie und die Anwender dürfen sich davon nicht beirren lassen. Sie müssen sich – radikal – am Anwendernutzen orientieren.




«Software muss nicht fliegen» unter diesem sinnbildlichen Titel konnte ich bei der renommierten Management-Zeitschrift IM+io erneut meine Überzeugungen darlegen, die ich in meinem Buch «Radikale Business Software» vertrete. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel. Hier geht es zum PDF.


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